Wer von uns Heiden hat eine Bach-Kantate schon mal bis zum Ende parat?
Wie der Hesse sagt: Da geht’s de Mensche wie de Leut, für Hochdeutsche: kann jedem passieren (und jeder). Lässt sich bei Kantate eins der Mitsingreflex kaum unterdrücken, ist ab Kantate vier so ziemlich Schluss. Wer von uns Heiden, die vor Weihnachten eine Aufführung des gleichnamigen (nicht Heiden-, sondern Weihnachts-)Oratoriums besuchen, hat das Werk schon bis zum Ende parat? Diesmal folgten der ersten Kantate („Jauchzet, frohlocket“ und all die anderen Hits) nicht die zweite und die dritte wie meist, sondern gleich die Nummern vier bis sechs. Das war gut für uns Heiden, Mitsingen war nicht, man konnte ganz ins Zuhören verfallen.
Und gut hat es getan, was die Kantorei der Frankfurter Katharinenkirche und das Bach-Collegium, die Solistinnen und Solisten und Kantor Michael Graf Münster ablieferten. Ein Bach zum Weinen – und zum Denken (glauben Sie es ruhig: Das muss kein Widerspruch sein). Vielleicht auch ein Bach zum Glauben, aber da sind wir Heiden raus.
Prompt kam nach dem Konzert die Frage auf, wie es kommt, dass Johann Sebastian Bachs Musik auch den Gottesfernen so naherückt, dass sie weinen. Dabei, so googelte einer mit seinem Telefon, habe der Leitspruch des Komponisten doch gelautet: „In der Musik ist Gottes Gnade gegenwärtig.“ Klingendes Evangelium und so.
Es war kein so recht Gläubiger am Tisch, weshalb das etwas sektiererische Argument ausblieb, in Wahrheit habe tatsächlich niemand anderes als Gott durch Bachs Musik gesprochen, was der Ungläubige nur nicht erkenne, seines Unglaubens wegen. Es blieb also nichts anderes übrig, als die anrührende Wirkung des Oratoriums von seinem religiösen Gehalt zu lösen.
Folgende These stieß auf einhellige Zustimmung: Der Leipziger Kantor habe in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts etwas Allgemeingültiges getan. Mit exakt geplanten, ja berechneten Mitteln habe er den Kontrapunkt und gewagte musikalische Figuren aller Art genutzt, um die verschlungenen Wege des Denkens (für Nichtheiden gern auch: des Glaubens) durch mannigfaltige Versuchungen und Widrigkeiten hindurch nachzuzeichnen. Das alles diene dem einen Ziel, am Ende den Triumph des Guten, des Ideals, für Nichtheiden gern auch: Gottes vorwegzunehmen und zu feiern. Und es sei doch der (jetzt gern für alle:) Glaube an die wenn auch ferne Möglichkeit dieses Triumphes, der Kraft gebe, den Teufel (für Heiden: den ganzen Mist der realen Welt) zu ertragen, indem man ihn bekämpft. Voller Optimismus, gegen alle Wahrscheinlichkeit.
Nun dankten alle im Stillen Bach und dem Kantor und gingen beschwingt schweigend nach Hause.